15. SMA-Kongress der Families of SMA

Vom 23.-25. Juni 2011 fand der 15. alljährliche internationale Kongress der „Families of SMA“ (FSMA) in Orlando, Florida statt. Das diesjährige Zusammentreffen war mit 1.500 Teilnehmern das bisher größte dieser Art. Im Rahmen des Treffens konnten sich sowohl die betroffenen Familien als auch über 200 anwesende Wissenschaftler über den neuesten Stand der SMA-Forschung und die neuesten Entwicklungen austauschen. Im Folgenden sind die wichtigsten und neuesten Ergebnisse, die im wissenschaftlichen Teil der Tagung diskutiert und vorgestellt wurden, nach Themenschwerpunkten sortiert und zusammengefasst.

Die Zusammenfassung beginnt mit den Mechanismen der Pathogenese der Spinalen Muskelatrophie. Ein besonderer Schwerpunkt, der sich auf der diesjährigen Konferenz ergab, war die Frage nach der Rolle anderer Gewebetypen als den Motoneuronen, insbesondere der Muskeln, in der SMA, weshalb wir den Muskeln einen eigenen Abschnitt eingeräumt haben. Der dritte Abschnitt widmet sich möglichen Behandlungsformen, deren Untersuchung bevor sie beim Menschen angewendet werden können, und auch hier ergaben sich – neben Antworten auf die Frage der Wirkung neue Erkenntnisse inwieweit das Zentrale Nervensystem oder das übrige Organ- und Gewebesystem an der Krankheit beteiligt sind. Der letzte Abschnitt widmet sich schließlich einem klinischen Aspekt, einer neuen – allerdings in der Entwicklung befindlichen Methode­ – zur ambulanten Überwachung der Atemfunktion von SMA-PatientInnen.

1. Neues zur Pathogenese der SMA

Der krankheitsmodifizierende Faktor Plastin3 mildert neuromuskuläre Defekte in SMA-Modellen (Fisch und Maus)

Bereits 2008 wurde von der Arbeitsgruppe um Brunhilde Wirth (Universität Köln, Deutschland) Plastin3, ein Gen, das auf dem X-Chromosom liegt, als ein Faktor identifiziert, der den Schweregrad der SMA beeinflusst. Damals konnte gezeigt werden, dass eine Steigerung der Plastin3-Produktion vor dem Ausbruch einer SMA schützen kann (Oprea et al. 2008). Um den genauen molekularen Mechanismus dieser Schutzwirkung zu analysieren und eventuelle neue Therapieansätze zu finden, wurden verschiedene Tiermodelle untersucht, die das menschliche Plastin3-Gen tragen. Christine Beattie (Ohio State University, USA) berichtete über die Herstellung eines transgenen Zebrafisch-Modells für SMA (d.h. dieser Zebrafisch trägt ein menschliches SMN2-Gen) und einen Plastin3-transgenen Fisch. Sie konnte anhand dieser beiden Modelle beweisen, dass SMA-Fische, die sehr viel Plastin3 herstellen, teilweise vor den Symptomen einer SMA geschützt sind. Ihre Arbeitsgruppe stellte fest, dass die eingeschränkten Motorfunktionen der SMA-Fische durch eine erhöhte Menge von Plastin3 signifikant abgemildert wurden. Interessanterweise wurde jedoch die reduzierte Überlebenszeit der erkrankten Fische nicht verbessert. Beattie erklärte dieses Phänomen damit, dass der Spiegel an vorhandenem SMN-Protein in diesen Fischen zu gering sei. Dies sei auch übereinstimmend mit den Daten aus den von Wirth beschriebenen diskordanten Familien (SMA-Familien, bei denen die Mitglieder den gleichen genetischen Befund einer SMA aufweisen, bei denen einige aber nicht an SMA erkranken). Hier würden die vollständig geschützten Individuen relativ große Restmengen an SMN produzieren, da sie meist 3 oder mehr SMN2-Genkopien trugen.

In einem weiteren Vortrag berichtete Bastian Ackermann (AG Brunhilde Wirth, Köln) über das von ihm hergestellte Plastin3-Mausmodell. Um die genetische Situation der beschriebenen diskordanten Familien zu simulieren, wurden transgene Mäuse hergestellt, die das humane Plastin3-Gen tragen und gleichzeitig SMA haben. Diese Tiere zeigten eine deutliche Verbesserung bei den für SMA typischen Veränderungen in der neuromuskulären Endplatte (der Kontaktstelle zwischen Nerv und Muskel). Allerdings konnte keine Verbesserung der motorischen Fähigkeiten festgestellt werden.

2. SMN im Muskel – neue Erkenntnisse von Mäusen und Menschen

2.1 Welche Muskelgruppen sind in einem Mausmodell für SMA betroffen?

Bei der Spinalen Muskelatrophie sind typischerweise zuerst die diejenigen Muskeln der Beine und Arme betroffen, die nahe am Rumpf liegen (Oberschenkel, Becken, Oberarme). Karen Ling (AG Chien-Ping Ko, University of Southern California, Los Angeles, USA) möchte nicht nur den genauen Krankheitsverlauf im SMA-Mausmodell beschreiben, sondern auch mögliche so genannte „Biomarker“ für Medikamentenstudien identifizieren. Sie untersuchte deshalb die unterschiedliche Innervierung verschiedener Muskelgruppen in einem SMA-Mausmodell. Ling wollte Antworten auf die Fragen finden, ob die Denervierung gleichmäßig ist oder in manchen Muskeln verstärkt auftritt und ob die neuromuskulären Endplatten nicht richtig gebildet werden, oder im Krankheitsverlauf zugrunde gehen. Ihre Arbeit zeigte, dass bestimmte Muskelgruppen der Maus stärker und manche schwächer betroffen sind. Die Hinterbeinmuskulatur sei generell weniger stark betroffen als die der Vorderbeine und die Rückenmuskulatur. Wie Ling berichtete, sei die mangelnde Innervierung weniger ein Problem der Bildung der Endplatten, sondern vielmehr ein Resultat der fehlerhaften Aufrechterhaltung dieser Endplatten. Um eine Aussage treffen zu können, ob die Anfälligkeit bestimmter Muskelpartien als möglicher Biomarker bei Therapiestudien in Tierversuchen dienen könnte, behandelte Ling die Mäuse mit dem Histondeacetylaseinhibitor (HDACi) Trichostatin A (TSA), der zu einer verstärkten Produktion von SMN-Protein führt. Tatsächlich konnte die Arbeitsgruppe zeigen, dass die TSA-Behandlung einen deutlichen (~23 %igen) Anstieg der Anzahl an intakten Endplatten in den anfälligen Muskelpartien zur Folge hatte. Daher, so Ling, seien die gewonnenen Erkenntnisse insbesondere deshalb wertvoll, da man daran die Wirkungsweise von potentiellen SMA-Medikamenten speziell in Zielgeweben untersuchen könne. Dies sei für präklinische Studien von hohem Interesse.

2.2 Wenn der SMN-Proteinspiegel bei einer schwer betroffenen SMA-Maus nur im Muskel gesteigert wird, verbessert sich die Funktion der neuromuskulären Endplatte, die Beweglichkeit sowie das Überleben der Maus

Die neuromuskulären Endplatten von SMA-Mäusen zeigen Defizite im Aufbau und in der Funktion. Dabei ist unklar, ob diese durch den SMN-Proteinmangel hervorgerufenen Defizite nur von den Motoneuronen ausgehen. Eine andere Möglichkeit besteht in der Beteiligung der Muskelzelle.

Diese Fragestellung wurde von der Gruppe um Charlotte J. Sumner (John Hopkins University, Baltimore, USA) untersucht. Es zeigte sich, dass eine Erhöhung der SMN-Proteinmenge nur in der Muskelzelle (und nicht in der motorischen Nervenzelle) zu einer deutlichen Verbesserung der Funktion der Kontaktstellen zwischen Nerv und Muskel und zu einem längeren Leben der Mäuse führt. Die Defekte in der Endplatte kommen also nicht allein durch einen Mangel an SMN-Protein im Motoneuron zustande.

2.3 Untersuchungen an humanen Föten mit SMA zeigen frühe, entwicklungsabhängige Defekte der neuromuskulären Endplatte

Während der mangelhafte Aufbau der neuromuskulären Endplatte in SMA-Mausmodellen schon untersucht wurde, ist die Situation bei Menschen weitgehend unbekannt. Die Arbeitsgruppe um Eduardo Tizzano (Hospital de la Santa Creu I Sant Paul, Barcelona, Spanien) hat diese Lücke geschlossen, indem sie jeweils sechs Föten ab der 14. Schwangerschaftswoche untersucht hat, bei denen eine Entwicklung von SMA-Typ I oder II vorhergesagt wurde. Dazu wurden das Zwerchfell, die Zwischenrippenmuskeln, sowie die oberen und unteren Muskeln der Extremitäten präpariert und mikroskopiert.

Während die neuromuskulären Endplatten von SMA Typ II-Muskeln keine Unterschiede in Aussehen und Verteilung zeigten, konnten bei SMA Typ I-Muskeln deutliche krankhafte Veränderungen festgestellt werden. 

3. Neue Therapieansätze – Substanzen mit Potential

3.1 Ein neues SMA-Tiermodell: Das Hausschwein

Die vergleichende Medizin (Tierversuchbasierte Medizin) hat große Fortschritte in der Erforschung der Krankheitsmechanismen der SMA sowie in der Entwicklung von therapeutischen Ansätzen möglich gemacht. Bisher wurden alle in vivo Versuche (das heißt Versuche am lebenden Organismus) anhand von verschiedenen SMA-Mausmodellen durchgeführt. Monique Lorson (Universität Missouri, Columbia, USA) stellte einen neuen Ansatz vor: Die Herstellung eines genetisch modifizierten Hausschweins als SMA-Tiermodell (Lorson et al. 2011). Die Vorteile eines solchen Modellorganismus wären größere biologische Ähnlichkeiten zwischen Schwein und Mensch. Daher könnte auf diese Weise nicht nur der Krankheitsverlauf der SMA in viel größerem Detail untersucht, sondern vor allem therapeutische Aspekte gründlicher beleuchtet werden. Gerade Fragestellungen zur Anwendung von möglichen Medikamenten, wie z.B. Verabreichungsform, Dosierung, Verteilung, Überwindung der Blut-Hirn-Schranke, Bioverfügbarkeit und Immunantwort, könnten mit diesem Tiermodell sehr viel besser beantwortet werden.

3.2 Identifizierung klinisch verfügbarer Substanzen, die die SMN Proteinproduktion erhöhen

Faraz Farooq (AG Mackenzie, University of Ottawa, Ottawa, Kanada) berichtete von der Identifizierung verschiedener, bereits als Medikamente zugelassener Substanzen, die in der Lage sind, die SMN-Proteinproduktion vom SMN2-Gen zu erhöhen. Die Wissenschaftler konnten nachweisen, dass das natürlich vorkommende Hormon Prolaktin (spielt eine wichtige Rolle während der Schwangerschaft) in Zellkulturversuchen mit neuronalen Zelllinien von Menschen und Mäusen, die SMN-Produktion signifikant steigern konnte. Von Interesse war außerdem, dass die Wirkungsweise dieser Substanz identifiziert wurde. Die SMN-Heraufregulierung durch Prolaktin laufe über einen bereits bekannten Signalweg. Zudem war es den Forschern gelungen, durch pharmakologische Beeinflussung das bereits vorhandene SMN-Protein in der Zelle zu stabilisieren.

3.3 Ansätze für eine potentielle Stammzelltherapie bei SMA

Stefania Corti von der Universität Mailand (Arbeitsgruppe Pietro Comi, Italien) stellte neu gewonnene Erkenntnisse auf dem Gebiet der stammzellbasierten Therapie in SMA-Mäusen vor. Seit wenigen Jahren ist es Wissenschaftlern möglich, aus leicht zu gewinnenden Hautzellen von Menschen Stammzellen (sog. Induced pluripotent stem cells iPSC) herzustellen (Ebert et al. 2009). Der große Vorteil dieser Zellen ist die Möglichkeit, sie in jegliche Art von Gewebe zu entwickeln, wie zum Beispiel Motoneurone, die für eine SMA-Therapie von großem Interesse sein könnten. Corti und ihren Kollegen gelang es, menschliche iPSCs aus Hautzellen eines SMA Typ I-Patienten und seinem nicht betroffenen Vater zu generieren. Aus diesen Stammzellen wurden dann in vitro (in der Petrischale) Motoneurone hergestellt, um sie schließlich als therapeutische Maßnahme in das Rückenmark von SMA-Mäusen zu transplantieren. Sowohl die Mäuse, denen Motoneurone mit SMA, als auch diejenigen SMA-Mäuse, denen gesunde Motoneurone transplantiert wurden, zeigten eine verlängerte Lebenszeit im Vergleich zu den untransplantierten. Wie zu erwarten war, lebten die Tiere, die die „gesunden“ Motoneurone empfingen signifikant länger als diejenigen, denen die SMA-Motoneurone injiziert wurden. Obwohl die transplantierten Motoneurone in der SMA-Maus überlebten und wie Motoneurone aussahen, konnten sie keine Zellfortsätze zu den Muskeln ausbilden. Der beobachtete positive Effekt auf das Überleben der Tiere sei vielmehr dadurch vermittelt worden, dass die Transplantate bestimmte Stoffe (neurotrophe Faktoren) im Rückenmark freisetzten, die in der Lage seien, die vorhandenen erkrankten Motoneurone zu unterstützen und am Leben zu erhalten (neuroprotektiver Effekt).

Ein weiterer Vortrag, der sich mit der therapeutischen Anwendung von Stammzellen für SMA befasste, wurde von Hans Keirstead (University of California, California Stem Cell Inc., Irvine, Kalifornien, USA) gehalten. Keirstead beschäftigt sich bereits seit einigen Jahren mit der Generierung von reinen Motoneuronenkulturen aus embryonalen Stammzellen, mit dem Ziel, sie als therapeutisches Mittel gegen SMA einzusetzen. Der Wissenschaftler berichtete, es sei ihm möglich, Motoneuronenkulturen mit einer >98 %igen Reinheit (>98 % aller Zellen sind Motoneurone) herzustellen. Dies sei eine sehr wichtige Voraussetzung für eine Therapie, da sonst unerwünschte Nebenwirkungen (Tumorbildung, Immunreaktionen etc.) auftreten könnten. Wichtig zu erwähnen sei, so Keirstead, dass die restlichen 2 % der Zellen verschiedene ausdifferenzierte neuronale Zellen seien, aber keine Stammzellen in der Kultur zu identifizieren seien, damit könne man eine etwaige Tumorgefahr minimieren. In vitro konnte die Arbeitsgruppe um Keirstead zeigen, dass die so kultivierten Motoneurone Kontakte zu kultivierten humanen Muskelzellen ausbilden. Als erste in vivo Versuche wurden Motoneuronvorläuferzellen in SMA-Mäuse transplantiert. Diese Tiere zeigten deutliche Verbesserungen, so hatten sie eine größere Muskelmasse und ein erhöhtes Körpergewicht im Vergleich zu untransplantierten SMA-Mäusen. Bei genauerer Betrachtung der Tiere wurde festgestellt, dass der positive Effekt nicht durch Neuausbildung von Motoneuronen, sondern durch einen neuroprotektiven Effekt (Ausschüttung von Wachstumsfaktoren, siehe oben) für die bereits vorhandenen Motoneurone, zustande kam. Keirstead konnte keine Angaben zu einem eventuell längeren Überleben der transplantierten SMA-Mäuse machen.

3.4 Antisense-Oligonukleotide (ASO) als Therapie im SMA-Mausmodell

In diesem Jahr stellte Paul Porensky aus der Arbeitsgruppe von Arthur Burghes (Ohio State University, Columbus, USA) neue Erfolge der „Antisense-Oligonukleotid“-Therapie vor. Die Wirkungsweise von Antisense-Oligonukleotiden (ASO) ist die Blockierung von hemmenden Bereichen der Boten-RNA, wodurch der Einschluss des Exon 7 in das SMN-Protein begünstigt wird. (Coady et al. 2008; Hua et al. 2008). ASOs sind künstlich hergestellte Abschnitte von Nukleinsäure-Sequenzen, die hochspezifisch an die SMN2-prä-mRNA binden können. Porensky verwendete sog. Morpholinos, die chemisch sehr stabil sind und somit eine sehr lange Wirkung haben. Die Wissenschaftler zeigten, dass eine einmalige intraventrikuläre Gabe (Injektion in eine Flüssigkeitskammer im Gehirn) von Morpholinos die Entstehung von Krankheitssymptomen in schwer betroffenen SMA-Mäusen stark abmildern (keine motorischen Einschränkungen) und die Lebenszeit von durchschnittlich 14 auf über 100 Tage verlängern konnte. Die Injektion wurde direkt nach der Geburt durchgeführt, um einen solchen Effekt erreichen. Schon eine 4 Tage spätere Injektion resultierte nur noch in einer Lebensverlängerung auf 40 Tage. Bei der genauen Untersuchung der behandelten Mäuse stellten die Forscher eine sehr deutliche Veränderung des SMN2-Spleißmusters im kompletten zentralen Nervensystem fest und stellten die Annahme auf, dass die frühe Injektion in einen Hirnventrikel ausreichend sei, um das gesamte Zielgewebe (inklusive der Motoneurone) zu behandeln. Um diese sehr invasive Form der Applikation (Anwendung) zu umgehen, verändern die Wissenschaftler zurzeit die Morpholinos, damit diese die Blut-Hirn-Schranke überwinden und systemisch appliziert (zum Beispiel in eine Vene oder unter die Haut gespritzt, die Substanz wird dann im ganzen Körper verteilt) werden können. Trotzdem sei, so Porensky, eine baldige klinische Anwendung denkbar, da die Methoden bereits etabliert seien, die eine direkte Gabe in das ZNS ermöglichten (einmalige Injektion oder Pumpe in die Flüssigkeit des Rückenmarkskanals).

3.5 Antisense Oligonukleotide: Welche Anwendungsform? Systemisch oder ins zentrale Nervensystem?

Obwohl die SMA nach wie vor als neurodegenerative Krankheit gilt, bei der hauptsächlich die Motoneurone des Rückenmarkes betroffen sind, verschiebt sich doch der Fokus auch auf andere Zell- und Gewebetypen. So wurden sowohl Herzdefekte als auch Nekrosen an den Fingern bei SMA I-Patienten beschrieben (Rudnik-Schoneborn et al. 2008, Rudnik-Schoneborn et al. 2010). All diese Befunde deuten darauf hin, dass es sich bei der SMA nicht um eine reine Motoneuronerkrankung handelt. Selbst die Degeneration der Motoneurone könnte ihre Mitursachen in Prozessen haben, welche in anderen Zell- oder Gewebetypen stattfinden.

Um zu überprüfen, inwieweit nicht-neuronale Zell- und Gewebetypen am Krankheitsverlauf einer schwer betroffenen SMA-Maus beteiligt sind, wurde von der Gruppe um Adrian Krainer (Cold Spring Harbor Laboratory, New York, USA) ein Antisense-Oligonukleotid (ASO) den SMA-Mäusen verabreicht. Dabei wurde eine subkutane Injektion mit einer Injektion in das zentrale Nervensystem (ZNS) verglichen. Das ASO ist nicht hirnschrankengängig, wodurch eine Kontamination des ZNS bei der Injektion unter die Haut nicht möglich war.

Es zeigte sich, dass die subkutane Injektion das Überleben des hier verwendeten SMA-Mausmodells mit schwerem Verlauf um das 25fache steigerte, während mit einer Verabreichung ins ZNS lediglich eine Steigerung des Überlebens um Faktor 2 erreicht werden konnte. Auch andere wichtige Anzeichen wie die Anzahl der Motoneurone im Rückenmark, das Aussehen der neuromuskulären Endplatte, die Größe des Herzens sowie das motorische Verhalten waren denen der nicht betroffenen Kontrolltiere sehr ähnlich. Die Injektionen wurden üblicherweise an den postnatalen Tagen null bis drei durchgeführt und es zeigte sich auch, dass eine spätere Intervention einen weitaus geringeren Effekt auf die Verbesserung des Krankheitsbildes hatte.

Insgesamt kann daher gesagt werden, dass sowohl die Wiederherstellung der SMN-Konzentration außerhalb des ZNS als auch die rechtzeitige Behandlung entscheidend für den Erfolg einer Substanz bei schwer betroffenen SMA-Mausmodellen sein kann.

3.6 Präklinische Studien in Mäusen und nicht humanen Primaten liefern Hinweise für die Eignung von Antisense-Oligonukleotiden als SMA-Therapeutikum

Ein vielversprechender Ansatz zur Therapie der SMA ist es, die Anzahl der Fehlspleißereignisse der messenger-RNA (mRNA), welche durch das SMN2-Gen entsteht, zu reduzieren, so dass voll funktionsfähiges SMN-Protein produziert werden kann. ASOs können das korrekte Spleißen fördern. Ein solches ASO, ISIS396443, wurde von der Arbeitsgruppe um Frank Bennett verwendet und es konnte schon früher gezeigt werden, dass über 90 % der SMN2-mRNAs nach einer ISIS396443-Behandlung korrekt gespleißt wurden.

Um die wirksamste Behandlungsmethode zu ermitteln, wurde die Substanz entweder täglich, verteilt über sieben Tage, oder einmalig ins Zentrale Nervensystem von SMA-Mäusen injiziert. Außerdem wurden Makakenaffen durch eine einmalige Gabe in die Rückenmarksflüssigkeit damit behandelt. Im Anschluss wurden die Konzentration der Substanz selbst sowie die Konzentration an korrekt gespleißter SMN2-mRNA gemessen.

Die Infusion über mehrere Tage führte dabei zu einer erhöhten Konzentration korrekt gespleißter SMN2-mRNA, welche selbst nach einem Jahr noch messbar war. Die Halbwertszeit von ISIS396443 im ZNS beträgt dabei ca. 200 Tage. Eine einmalige Infusion ist jedoch effektiver, denn es konnte eine noch höhere Konzentration an SMN2-mRNA gemessen werden. Daher wurde Makaken die Substanz einmalig appliziert und nach acht Tagen zeigten Untersuchungen verschiedener Gewebe, dass die Konzentration im Rückenmark und anderen Geweben eine Konzentration erreichten, die pharmakologisch wirksam ist. Die Halbwertszeit des Medikamentes betrug im Rückenmark ca. 40 Tage, was eine Applikation der Substanz alle ein bis drei Monate nahelegt.

Sollten die präklinischen toxikologischen Untersuchungen der Substanz positiv ausfallen, ist ein Start der klinischen Phase I-Studien im Jahr 2012 geplant.

3.7 Bioverteilung von intravenös injizierten AAV9 in jungen Makaken

Die Gentherapie ist eine weitere Möglichkeit, den SMN-Proteinspiegel wiederherzustellen. Dazu bedient man sich des sog. Adeno-assoziierten Virus 9 (AAV9), der dazu in der Lage ist, genetisches Material dauerhaft in das Genom einer Zelle einzubringen. Schafft man es auf diese Weise, das SMN-Gen als sog. Transgen in neuronale Zellen im Allgemeinen und Motoneurone im Speziellen einzubringen, wäre dies ein vielversprechender Therapieansatz. In früheren Studien der Gruppe um Brian K Kaspar (The Ohio State University, Columbus, USA) konnte gezeigt werden, dass AAV9 nach einer intravenösen Injektion die Blut-Hirn-Schranke sowohl in Mäusen als auch in Makaken überwinden und ein SMN-Transgen in die Motoneurone einbringen kann. Es zeigte sich allerdings auch, dass AAV9 bei Mäusen mit zunehmendem Alter nicht mehr in die Motoneurone, sondern in andere Zelltypen im Rückenmark eindringt. Dadurch reduziert sich das Zeitfenster, in welchem eine effektive Therapie stattfinden kann, auf die ersten 10 Tage nach der Geburt (Foust et al. 2010).

Um zu testen, ob der Zeitraum, innerhalb dem eine Therapie effektiv wäre, bei Makaken ähnlich knapp ist, wurde AVV9s entweder 1, 30 oder 90 Tage nach der Geburt intravenös verabreicht. Das Transgen, welches ins Genom der Zielzellen eingebaut wurde, war dabei ein fluoreszierendes Protein, welches in verschiedenen Geweben leicht nachgewiesen und quantifiziert werden kann.

Dünnschnitte des Gehirns, des Rückenmarks und der Muskeln zeigten eine Aktivität des Transgens in allen Geweben zu allen Zeitpunkten mit der höchsten Konzentration im Muskel. Auch die Motoneurone waren dabei positiv für das Transgen, das Zeitfenster für eine effektive neuronale Behandlung durch AAV9s ist bei Makaken also weit größer als bei Mäusen.

3.8 Erste funktionelle Studien von Substanzen, die durch ein Hochdurchsatz-Screening identifiziert wurden

Bereits im letzten Jahr berichtete Nikolai Naryshkin (PTC Therapeutics, South Plainfield, NY, USA) von einem von seiner Firma entwickelten Hochdurchsatz-Screening mit dessen Hilfe Substanzen identifiziert werden sollten, die mit der SMN2-mRNA interagieren und die Bildung des Volllänge-SMN- Proteins erhöhen.

Auf dem diesjährigen Meeting berichtete Naryshkin von den ersten Resultaten von in vivo Experimenten mit den neu identifizierten Substanzen. Wie Naryshkin berichtete, könnten die identifizierten Substanzen geschluckt werden und würden die Blut-Hirn-Schranke überqueren. Schwer betroffene SMA-Mäuse wurden zweimal täglich entweder 3 oder 6 Tage nach der Geburt damit behandelt. Die Wissenschaftler verzeichneten eine Korrektur des SMN2-Spleißmusters sowie einen Anstieg von 200 % der SMN-Proteinmenge in jedem untersuchten Gewebe. Die motorischen Fähigkeiten der Tiere wurden dosisabhängig deutlich verbessert: nach Absetzen der Therapie wurden die motorischen Fähigkeiten der Tiere schlechter, was sich aber nach erneuter Gabe wieder herstellen ließ. Die Lebenserwartung der SMA-Mäuse wurde von 14 auf 122 Tage verlängert. Das weitere Vorgehen, so Naryshkin, sei die chemische Optimierung der identifizierten Substanzen, sowie weitere Sicherheitsstudien in Tierversuchen, um schließlich erste klinische Studien durchzuführen.

4. Ambulante Überwachung der Atemfunktionen von SMA-Typ II-PatientInnen

Die Erhebung der Daten zur Atmung von SMA-PatientInnen während des Schlafes kann von Bedeutung sein, um den Verlauf der Krankheit zu verfolgen, Verschlechterungen frühzeitig festzustellen und eine nicht-invasive Beatmung zu planen. Die klinische Überwachung im Schlaflabor hat dabei den Nachteil, dass die z.T. sehr jungen PatientInnen in regelmäßigen Abständen aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen werden, was eine erhebliche Belastung sein kann.

Um eine Überwachung von zu Hause aus zu ermöglichen, wurde daher von der Arbeitgruppe um Petra Kaufmann (Columbia University of physicians and Surgeons, USA) das LifeShirt, eine mit verschiedenen Sensoren ausgestattete Weste, entwickelt, welche die Erhebung verschiedener Parameter zur Atmung während des Schlafes ermöglicht.

Um das System zu testen, wurde die nächtliche Atemfunktion von vier SMA Typ II-PatientInnen über ein Jahr lang alle 2 Monate überwacht. Dabei wurden jeweils ein Plethysmogramm, also die Volumenveränderung des Oberkörpers durch die Atmung, ein EKG sowie die Sauerstoffsättigung gemessen. Andere wichtige Werte konnten dann daraus berechnet werden.

Bei den so untersuchten PatientInnen wurden verschiedene Störungen der Atemfunktion festgestellt, wobei sich relativ große Unterschiede im Schweregrad der Störungen zwischen den Patienten ergaben. Außerdem korrelierte der Schweregrad der Atemstörungen nicht mit dem Grad der motorischen Einschränkungen. Bei zwei PatientInnen wurde während der Studie begonnen, die Atmung künstlich zu unterstützen, was zu signifikanten Verbesserungen mehrerer, mit dem LifeShirt-System gemessener Parameter führte. Das LifeShirt-System wurde von allen PatientInnen als angenehm zu tragen empfunden, es konnten keine Beeinträchtigungen bezüglich der Atmung oder der Schlafqualität festgestellt werden und eine ambulante Messung der Atemfunktion wurde in jedem Fall einer im Schlaflabor bevorzugt.

Für die weitere Entwicklung des Systems ist es von großer Bedeutung, dessen Leistungsfähigkeit im direkten Vergleich gegenüber klinischen Messungen zu zeigen und die Anwendung auf weitere SMA-Schweregrade auszudehnen.

5. Literaturangaben

Coady TH, Baughan TD, Shababi M, Passini MA, Lorson CL (2008) Development of a single vector system that enhances trans-splicing of SMN2 transcripts. PLoS One 3: e3468

Ebert AD, Yu J, Rose FF, Jr., Mattis VB, Lorson CL, Thomson JA, Svendsen CN (2009) Induced pluripotent stem cells from a spinal muscular atrophy patient. Nature 457: 277-80

Foust KD, Wang X, McGovern VL, Braun L, Bevan AK, Haidet AM, Le TT, Morales PR, Rich MM, Burghes AH, Kaspar BK (2010) Rescue of the spinal muscular atrophy phenotype in a mouse model by early postnatal delivery of SMN. Nat Biotechnol 28: 271-4

Hua Y, Vickers TA, Okunola HL, Bennett CF, Krainer AR (2008) Antisense masking of an hnRNP A1/A2 intronic splicing silencer corrects SMN2 splicing in transgenic mice. Am J Hum Genet 82: 834-48

Lorson MA, Spate LD, Samuel MS, Murphy CN, Lorson CL, Prather RS, Wells KD (2011) Disruption of the Survival Motor Neuron (SMN) gene in pigs using ssDNA. Transgenic Res

Oprea GE, Krober S, McWhorter ML, Rossoll W, Muller S, Krawczak M, Bassell GJ, Beattie CE, Wirth B (2008) Plastin 3 is a protective modifier of autosomal recessive spinal muscular atrophy. Science 320: 524-7

Rudnik-Schoneborn S, Heller R, Berg C, Betzler C, Grimm T, Eggermann T, Eggermann K, Wirth R, Wirth B, Zerres K (2008) Congenital heart disease is a feature of severe infantile spinal muscular atrophy. J Med Genet 45: 635-8

Rudnik-Schoneborn S, Vogelgesang S, Armbrust S, Graul-Neumann L, Fusch C, Zerres K (2010) Digital necroses and vascular thrombosis in severe spinal muscular atrophy. Muscle Nerve 42: 144-7

Dipl.-Biochem. Niko Hensel (1) & Dr. rer. nat. Markus Rießland (2)
(1) Institut für Neuroanatomie, Medizinische Hochschule Hannover
(2) Institut für Humangenetik, Universität zu Köln