2. Internationaler Wissenschaftlicher SMA Kongress von SMA Europe
Zwei Jahre nach der ersten Veranstaltung in Krakau fand vom 5. bis 7. Februar 2020 der von SMA Europe e.V. veranstaltete 2. Internationale wissenschaftliche SMA Kongress statt. Gastgeberorganisation war die französische Muskelgesellschaft AFM, die Ihren Hauptsitz in Evry, einer Kleinstadt etwa eine Autostunde südlich von Paris hat.
Zielgruppe der Veranstaltung waren auf dem Gebiet der SMA tätige Wissenschaftler, Kliniker, Physiotherapeuten, Krankenschwestern, Studenten, Pharmaunternehmen und Patientenorganisationen. Die Tatsache, dass momentan eine hochspannende Zeit in Sachen neue Therapien für SMA ist, spiegelte sich in der unerwartet hohen Teilnehmerzahl wider. Aus Kapazitätsgründen musste das Online-Registrierungsportal bei 600 Anmeldungen geschlossen werden. Nach Schätzung des Organisationskomitees hätten noch bis zu 150 weitere Personen gerne an dem Kongress teilgenommen. Damit war der diesjährige europäische wissenschaftliche Kongress deutlich größer als der jährlich von der amerikanischen Patientenorganisation Cure SMA veranstaltete wissenschaftliche SMA Kongress, der bisher etwa bis zu 450 Teilnehmer hatte.
Im Folgenden möchte ich eine kurze für Patienten verständliche Zusammenfassung der Veranstaltungstage geben. Viele der vortragenden Referenten haben ihre Forschungen bisher noch nicht in Fachmagazinen veröffentlicht. Dies bedingt, dass manche Forschungsergebnisse hier auch nicht bekanntgegeben werden können. Dies bitte ich zu entschuldigen und zu bedenken.
Tag 1
Eröffnet wurde der Kongress am 5. Februar von Mencia de Lemus Belmonte, der amtierenden 1. Vorsitzenden von SMA Europe e.V., der europäischen Dachorganisation für SMA Patientenorganisationen, und von Prof. Dr. Kevin Talbot von der Oxford Universität, der stellvertretender Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats dieser Organisation ist.
Im Anschluss an die Eröffnungsreden folgte ein Vortrag von Prof. Dr. Judith Melki, der es 1995 gelang, das Krankheitsgen zu identifizieren und die damit den Weg für eine humangenetische Diagnostik und für einen Ansatzpunkt für spätere Studien und Therapien bereitet hat.
Die 2. Vorsitzende von SMA Europe, Dr. Nicole Gusset-Burgener, gab dann erste Einblicke in die Ergebnisse der von SMA Europe im Sommer 2019 in der europäischen Patientengemeinschaft durchgeführten Umfrage (EUPESMA-2019) zu den Erwartungen an neue Therapien. An dieser Umfrage nahmen mehr als 1.300 Patienten und Eltern von Patienten teil. Eine ähnliche Umfrage hatte SMA Europe bereits 2016 vor der Zulassung der ersten Therapie für SMA europaweit durchgeführt. Damals haben etwas mehr als 800 Teilnehmer bei der Umfrage mitgemacht. Wie bei der ersten Umfrage auch, werden die Antworten in der Umfrage nunmehr wissenschaftlich analysiert und aufbereitet, um dann in einem Fachjournal veröffentlicht zu werden. Die im Fachjournal veröffentlichten von den Patienten berichteten Therapieerwartungen werden sowohl von Pharmaunternehmen als auch von Zulassungs- und Regulierungsbehörden bei den Diskussionen um Zulassung von Studien und Therapien und bei den Diskussionen um Finanzierung der zugelassenen Therapien durch das jeweilige nationale Gesundheitssystem als Argumentationshilfen herangezogen. Bereits bei der ersten Umfrage haben über 95% der Teilnehmer eine Stabilisierung als einen Therapieerfolg angesehen. Interessanterweise hat sich trotz Zulassung eines Medikamentes daran nichts geändert. Sowohl bei den nunmehr behandelten Patienten als auch bei den noch nicht behandelten Patienten waren wieder über 95% der Ansicht, dass eine Stabilisierung als Erfolg anzusehen ist.
Während der Mittagszeit veranstaltete die Firma Hoffmann-La Roche, einer der Sponsoren des Events, ein Symposium zum Thema „Perspektiven“.
Am Nachmittag folgten dann unter dem Thema „Neue Behandlungsmethoden und neue Ansätze in den Therapien“ mehrere Vorträge aus dem Bereich der Grundlagenforschung im Labor, z.B. zur Untersuchung von potentiellen neuroprotektiven Genen am SMA-Mausmodell; zu möglichen Rezeptoren und Transportmechanismen, mit deren Hilfe die splicingmodifizierenden Antisense Oligonucleotide (ASOs) die Blut-Hirnschranke überwinden könnten. Diese Vorträge waren sehr fachspezifisch und für uns als Patientenvertreter fast nicht zu verstehen.
Daher waren wir erleichtert, dass im Anschluss ein sehr gut verständlicher Vortrag von Prof. Dr. Müller-Felber aus München zum in Bayern und Nordrhein-Westfalen laufenden Pilotprojekt „Neugeborenenscreening auf SMA“ und die dadurch mögliche präsymptomatische Behandlung Neugeborener mit der zugelassenen Therapie Nusinersen folgte. Bilder und Videos führten den Zuschauern deutlich vor Augen, dass bei sehr frühem präsymptomatischen Behandlungsbeginn bei vielen Patienten eine annähernd normale motorische Entwicklung erfolgen kann.
Prof. Laurent Servais berichtete im Anschluss über die Anwendung von Zolgensma bei präsymptomatischen Patienten im Rahmen der SPR1NT Studie. Auch hier zeigten Bilder und kurze Videos von präsymptomatisch behandelten Babys und Kleinkindern, dass motorische Meilensteine in den meisten Fällen alters entsprechend erreicht werden.
Fazit dieser beiden Vorträge war, dass zumindest bei präsymptomatischen Kindern bei denen eine SMA diagnostiziert wurde und die 2 bis 3 Kopien des SMN2 Gens haben, möglichst sofort mit einer Behandlung begonnen werden sollte.
Der den ersten Tag abschließende Workshop „Real World Data“, der unter anderem von Professor Jan Kirschner moderiert wurde, befasste sich mit der Notwendigkeit auch nach der Zulassung einer Therapie und der Anwendung an Patienten in der realen Welt, außerhalb der optimalen Bedingungen, die in klinischen Studien geschaffen werden, Daten zu sammeln und zu analysieren, um Aussagen über Therapieerfolg und Nebenwirkungen der Therapie bei längerfristiger Behandlung machen zu können.
An dieser Stelle möchte ich auch erwähnen, dass abseits vom offiziellen Kongressprogramm hinter verschlossenen Türen im Laufe der 3 Tage unzählige Besprechungen z.B. zwischen den pharmabezogenen Arbeitsgruppen von SMA Europe und den verschiedenen Pharmaunternehmen, oder zwischen den Pharmaunternehmen und den Klinikern der führenden Behandlungszentren stattgefunden haben, deren oberstes Ziel unter anderem war, die Weichen für einen möglichst breiten und fairen Zugang zu den vorhandenen und neuen Therapien zu stellen.
Tag 2
Der nächste Tag begann am frühen Morgen mit 4 Vorträgen von in der präklinischen Forschung tätigen Wissenschaftlern zur Frage, auf welche Weise SMN die Translation beeinflusst. Zwei der Referenten, Dr. Niko Hensel, Medizinische Hochschule Hannover, und Dr. Christian Simon, Universität Leipzig, die hierüber vortrugen, wurden in den zurückliegenden Jahren durch das Forschungsförderungs-Programm von SMA Europe unterstützt. (Die Initiative SMA trägt hierzu 100.000 bis 200.000 Euro jährlich bei.)
Für den normalen Patientenvertreter war diese Vortragsreihe aus dem Bereich der präklinischen Grundlagenforschung am frühen Morgen schwer zu verdauen. Daher kam die anschließende Kaffeepause oder das während der Kaffeepause stattfindende und verständlichere Kost bietende Symposium des Sponsors Biogen zum Thema „SMA verstehen: Von den klinischen Studien zur realen Welt“ gerade rechtzeitig.
Der Titel der nächsten Vortragsreihe am Vormittag war „Symptomatische Behandlung“. Prof. Eugenio Mercuri referierte zur Frage, ob sogenanntes „Plasma Phosphorylated Neurofilament“, ein im Plasma messbares Protein, ein geeigneter Biomarker für die Beurteilung der Wirksamkeit bei der Therapie mit Nusinersen sein kann.
Prof. Francesco Muntoni berichtete im Anschluss über Zwischenergebnisse der Phase 3 STR1VE-EU Studie und der STR1VE-US Studie mit Zolgensma bei SMA Typ I Patienten mit 1-2 SMN 2 Kopien, die zu Behandlungsbeginn jünger als 6 Monate waren. Die bisherigen Ergebnisse sind vielversprechend im Hinblick auf eine beobachtete rasche Verbesserung der motorischen Funktion und dem Erreichen von motorischen Meilensteinen wie dem freien Sitzen.
Von vielen Teilnehmern mit Spannung erwartet, berichtete Prof. Eugenio Mercuri im Anschluss erstmals über Ergebnisse der Sunfish Teil 2 Studie mit Risdiplam, die placebokontrolliert an mehreren Zentren mit SMA Typ II- und nicht mehr gehfähigen Typ III-Patienten im Alter von 2 bis 25 Jahren durchgeführt wurde. Am gleichen Tag veröffentlichte Roche die vorläufigen Ergebnisse auch auf der eigenen Firmenhomepage. Die Ergebnisse der Studie mit Risdiplam zeigen, so wie wir das bereits von Ergebnissen der Studien mit Nusinersen und auch der Studien mit Zolgensma kennen, dass die größten motorischen Zugewinne bei jüngeren Patienten festgestellt werden können. Im Gegensatz zu den Studien mit Nusinersen und Zolgensma, wurden hier jedoch erstmals auch erwachsene Patienten mit Typ 2 und Typ 3 in eine Studie, die u.a. Grundlage des Zulassungsantrages bei der europäischen Medikamentenzulassungsbehörde sein wird, eingeschlossen. Erfreulicherweise zeigen die vorläufigen Ergebnisse, dass auch bei einigen dieser älteren Patienten ein motorischer Funktionsgewinn erzielt werden konnte, der für die Patienten selbst klinisch relevant ist. Zudem deuten die Ergebnisse zumindest auf eine Stabilisierung bei den älteren Patienten hin, was ja – wie oben bereits angesprochen – auch nach der neuen SMA Europe Umfrage (EUPESMA-2019) von Patienten als Therapieerfolg bewertet wird.
Den Abschluss dieses Hauptthemenkreises bildete ein Vortrag von Dr. Feline Scheijmans, die über Ergebnisse einer am niederländischen Behandlungszentrum in Utrecht durchgeführten Verlaufs- Studie von dort mit Nusinersen behandelten Kindern mit SMA Typ I, II und III berichtete. Wichtigstes Ergebnis der Studie war wohl, dass keiner der behandelten Patienten im Verlauf der Behandlung zuvor erlangte motorische Fähigkeiten verloren hat, und der motorische Zugewinn umso besser war umso früher mit der Behandlung begonnen wurde.
Während der folgenden Mittagspause fand ein Symposium des französischen Sponsors „Institute des Biotherapies“ zum Thema „Von der Grundlagenforschung zur Produktion biologischer Wirkstoffe im großen Maßstab und dem Zugang für Patienten im Bereich der seltenen und neuromuskulären Erkrankungen“ statt.
Am Nachmittag widmete sich die erste Vortragsreihe Forschungsprojekten, die sich mit SMN-unabhängigen, krankheitsbeeinflussenden Faktoren beschäftigen und den Fokus zum Beispiel auf am SMA-Mausmodell untersuchte vaskuläre, myopathische oder kardiologische Veränderungen richten.
Den Abschluss des zweiten Kongresstages bildeten 3 Vorträge, die sich mit den durch die neuen Behandlungen entstehenden neuen Phänotypen bei Kindern mit SMA I und II sowie bei Erwachsenen mit SMA beschäftigten.
Am Abend konnten ca. 250 Kongressgäste sich nach dem anstrengenden Vortragstag bei einem festlichen Gala-Dinner verwöhnen lassen, welches in ansprechendem Ambiente in einem Nebengebäude eines alten Schlosses stattfand. Der Transfer zu dieser etwa 30 Minuten vom Kongresszentrum entfernt gelegenen Location wurde mit 5 Reisebussen für alle Teilnehmer organisiert. Nach leckerem Essen und gutem Wein wurden die Teilnehmer mit den Bussen kurz vor Mitternacht wieder nach Evry zu den verschiedenen Kongresshotels chauffiert.
Tag 3
Nach einer kurzen Nacht begann auch der dritte Kongresstag am frühen Morgen um 8:00 Uhr. Unter dem Obertitel „Umfassendes Behandlungsmanagement der SMA“ wurde über Studien zur Entwicklung der Atemmuskulatur bei den unterschiedlichen SMA-Typen, über Probleme der SMA Typ II- und III-Patienten beim Kauen, über die Entwicklung des Körperfettanteils bei SMA Typ I-Kindern und die daraus zu ziehenden Schlüsse für die richtige Ernährung und das Phänomen der zunehmenden therapiebedingten Migration von ganzen Familien am Beispiel Italien berichtet.
Nach der Kaffeepause, in welcher das Unternehmen Avexis, ein weiterer Sponsor des Kongresses, zum Thema „Gentherapie für SMA entwächst den Kinderschuhen“ ein Symposium abhielt, widmete sich die nächste Vortragsstaffel der Rolle von Biomarkern für SMA. Vorgestellt wurden zum Beispiel Untersuchungen zur Eignung des neuralen Biomarkes NFL im Rückenmarksliquor als Indikator für das Ansprechen des Patienten auf die Therapie. Ein anderer Vortrag befasste sich mit der Möglichkeit, mit Hilfe von Magnetresonanzaufnahmen des Oberschenkels Aussagen zum Fortschreiten der Erkrankung machen zu können.
Die Vortragsreihen der drei Kongresstage wurden in einer von Prof. Kevin Talbot und Prof. Laurent Servais geleiteten abschließenden Gesprächsrunde unter dem Thema „Noch ungeklärte Fragestellungen in der SMA-Forschung im Zeitalter einer neuen therapeutischen Ära“ zusammengefasst.
In einer Abschlusszeremonie wurden von Mencia de Lemus, Präsidentin von SMA Europe und Prof. Kevin Talbot, stellvertretender Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirates der Organisation, die ausgelobten Preise an die vom wissenschaftlichen Beirat von SMA Europe gewählten besten Nachwuchsreferenten des Kongresses und besten Poster-Präsentationen der mit über 90 fachlichen Eingaben bestückten Poster-Ausstellung vergeben.
Am Nachmittag endete dann die informative und gelungene Kongressveranstaltung.
Wir freuen uns auf den 3. Wissenschaftlichen SMA Kongress von SMA Europe, der hoffentlich in 2 Jahren veranstaltet wird. Mit Spannung kann erwartet werden, wie sich die Forschungs- und Therapielandschaft und der europaweite Zugang zu Therapien bis dahin entwickelt haben werden.
Eva Stumpe
Teilnehmerin am Kongress für die DGM/Initiative SMA
Schatzmeisterin und Vorstandsmitglied SMA Europe