Das Protein Plastin 3 schützt offenbar SMA

„Ein Gen hilft dem anderen“ – Natürlicher Schutz vor spinaler Muskelatrophie durch Plastin 3

Bei jeder 35. Person in der Allgemeinbevölkerung fehlt eine Kopie des sogenannten SMN1-Gens, das normalerweise paarweise vorkommt. Diese Menschen sind selbst gesunde Anlageträger für eine schwerwiegende erbliche Erkrankung, der spinalen Muskelatrophie (SMA), bei der es durch den Untergang von Nervenzellen im Rückenmark zu fortschreitender Muskelschwäche und Muskelschwund kommt. Nur wenn beide Eltern Anlageträger sind, kann es mit 25 %iger Wahrscheinlichkeit zur Geburt eines Kindes mit SMA kommen. Eines unter 6.000 Neugeborene hat SMA. Bei ca. 50 % der SMA-Patienten treten erste Zeichen der Erkrankung bereits in den ersten Lebensmonaten auf (SMA Typ I), und die Kinder sterben in der Regel noch vor Vollendung des 2. Lebensjahres durch Versagen der Atemmuskulatur. Die anderen 50 % der SMA-Patienten weisen mildere Symptome auf. Der Krankheitsverlauf wird durch ein zweites Kopiegen (SMN2) stark beeinflusst. Je mehr SMN2-Kopien vorhanden sind, desto günstiger ist die Prognose. Bei spätem Krankheitsbeginn können Patienten ein normales Lebensalter erreichen. Die Muskelschwäche nimmt dabei kontinuierlich zu, so dass die meisten Patienten mit fortschreitender Erkrankung auf den Rollstuhl angewiesen sind. Eine Therapie gibt es bisher nicht.

Während in den meisten Familien betroffene Geschwister einen sehr ähnlichen Krankheitsverlauf zeigen, treten in einigen wenigen Familien unerwartete Ausprägungsunterschiede auf, wie folgendes Beispiel verdeutlichen soll: Familie P. hat drei Kinder. Das eine ist mit 2 Jahren an SMA erkrankt und ist seit Kindesalter auf den Rollstuhl angewiesen; die anderen beiden sind im Alter von über 50 Jahren kerngesund. Alle drei tragen den gleichen Verlust des SMN1-Gens und haben die gleiche Anzahl der SMN2-Genkopien. Die beiden gesunden Geschwister werden offensichtlich durch das günstige Zusammenspiel von einem oder mehreren anderen Genen vor der Erkrankung geschützt. Diese Familienkonstellation ist sehr selten, aber für die Forschung hochinteressant: Durch die Untersuchung der betroffenen und nicht-betroffenen Familienmitglieder gelang es der Arbeitsgruppe um Frau Prof. Brunhilde Wirth aus dem Institut für Humangenetik des Uniklinikums Köln, ein Gen zu finden, das vor SMA schützt.

Das schützende Gen heißt Plastin 3 und liegt auf dem geschlechtsspezifischen X-Chromosom. Das Plastin 3 Genprodukt wird normalerweise in nahezu allen unseren Zellen gebildet (exprimiert), jedoch nicht im Blut. Anders bei der oben beschriebenen Familie und fünf weiteren ähnlichen Familien: hier wurde Plastin 3 bei allen gesunden SMN1-deletierten Personen – alle Frauen – auch im Blut exprimiert. Auch wenn Blutzellen nicht für eine Erkrankung an SMA verantwortlich sind, gehen die Autoren davon aus, dass Plastin 3 auch in den krankheitsverantwortlichen Nervenzellen des Rückenmarks dieser Personen verändert exprimiert wird. Warum und wie es überhaupt zur Expression von Plastin 3 im Blut kommt und weshalb nur Frauen geschützt werden, konnte von der Gruppe trotz intensiver Suche nicht beantwortet werden. Um die Auswirkung einer Überexpression von Plastin 3 auf neuronale Zellen zu untersuchen, haben sich die Autoren andere Zellsysteme und Modellorganismen zu Nutze gemacht. Das Herunterschalten des Plastin 3 Gens in neuronalen Zellen führt zu einer starken Reduktion des Wachstums der Nervenverlängerungen (Neuriten, Axone), ähnlich wie es für geringe SMN-Mengen beobachtet wurde. Die Axone der Motoneurone beim Menschen leiten die Impulse aus dem Rückenmark zu den Muskeln und werden beim Menschen normalerweise über 1 m lang. Eine Überexpression von Plastin 3 regt das Wachstum der Neuriten und Axone sehr stark an. Ganz besonders wichtig war der Nachweis einer Wiederherstellung des normalen Axonwachstums, wenn SMN herunterreguliert und Plastin 3 überexprimiert wird, womit der schützende Effekt auf den SMA-Phänotyp eindeutig nachgewiesen werden konnte. Diese Ergebnisse konnten in drei verschiedenen Systemen gezeigt werden: in neuronalen Zellen der Ratte, in Motoneuronen von SMA-Mäusen und im Zebrafisch.

Der Gruppe ist es somit gelungen, nicht nur das erste vollständig schützende modifizierende Gen für eine erbliche Erkrankung beim Menschen zu identifizieren, sondern auch einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis des Pathomechanismus der SMA zu liefern, mit dem Ziel neue therapeutische Wege für diese oft tödliche Krankheit zu eröffnen. Diese für die Wissenschaft und Patienten bahnbrechende Entdeckung wurde jetzt von Prof. Wirth und Kollegen in der weltweit meistgelesenen wissenschaftlichen Zeitschrift SCIENCE veröffentlicht (Oprea et al. Science, April 25, 2008). Es ist eine besondere Auszeichnung für das noch junge Institut, das vor vier Jahren mit der Berufung von Frau Professor Wirth auf den Lehrstuhl für Humangenetik der Uniklinik Köln gegründet wurde.

Prof. Dr. Brunhilde Wirth
Institut für Humangenetik
Universität zu Köln
www.humangenetik.uni-koeln.de