Forschung für Kinder und klinische Studien mit Kindern mit SMA

„Unsere Kinder brauchen keine Forschung.“ „Wir führen ein vollkommen normales Leben (mit einem Kind mit SMA).“ „Wir leben im Hier und Jetzt.“ Diese und ähnliche Argumente werden vorgebracht, wenn es um und insbesondere gegen Forschung für Kinder mit Spinaler Muskelatrophie geht. Oft wird damit die Feststellung verknüpft, man müsse sich mit der Situation abfinden und die Dinge eben so nehmen, wie sie sind.

Ich bin immer ziemlich betroffen, wenn ich solche Sätze höre. Man stelle sich vor, einem erwachsenen Menschen mit einer unheilbaren Erkrankung würde gesagt, dass es für seine Krankheit keine Forschung geben wird, daran niemand interessiert sei und er sich eben damit abfinden müsse. Zu Recht würden hier die meisten Menschen wohl befremdet bis entsetzt reagieren.

Forschung bedeutet immer Zukunft und Hoffnung und darauf haben unsere Kinder sehr wohl ein Anrecht. Hoffung heißt nicht falsche Hoffnung auf die „Therapie um die Ecke“ oder nach dem Motto: „In fünf Jahren wird es eine Therapie geben.“ Solche Prognosen sind unseriös, weil Forschung und ihr Erfolg nur in Grenzen planbar sind.

Spinale Muskelatrophie ist selten und leider findet die Forschung hier nicht in den Großlabors der Industrie statt. Wer, wenn nicht wir Eltern, sollte sich für Ergebnisse der universitären Forschungsgruppen interessieren, diese Gruppen unterstützen und nach Kräften versuchen, die Ergebnisse auch zur Anwendung zu bringen?

Speziell beim Thema der Anwendung existieren bei Spinaler Muskelatrophie aus verschiedenen Gründen jedoch große Hürden. Bevor ein Medikament für eine bestimmte Erkrankung eine Zulassung erhält, das heißt, dass es der Arzt verschreiben kann und die Krankenkassen für die Kosten aufkommen müssen, muss seine Wirksamkeit in klinischen Studien nachgewiesen werden. Nach Tests in der Zellkultur und am Tiermodell muss die Wirksamkeit und Verträglichkeit unbedingt am Menschen getestet werden. Normalerweise wird zunächst ein Phase I-Studie durchgeführt, bei der die Verträglichkeit an einer kleinen Zahl von gesunden Freiwilligen getestet wird (nicht an Kindern!). In der Phase II wird an einer kleinen Zahl Erkrankter die Verträglichkeit getestet, aber auch schon auf die Wirksamkeit geachtet. In den größeren Phase III-Studien erhält üblicherweise die Hälfte der Patienten das Medikament, die andere ein Scheinmedikament (Placebo), um sicherzugehen, dass die Wirkung nicht auf einem „Wunschdenken“ von Arzt und Patient beruht. Weder die Studienteilnehmer noch der Arzt wissen, wer Medikament und wer Placebo bekommt.

Hier besteht bereits eine erste Hürde. Die meisten Patienten mit SMA sind Kinder und können damit nicht selbst in die Teilnahme an einer klinischen Studie einwilligen. Zwar ist die Einwilligungsfähigkeit in eine „Körperverletzung“, und um diese geht es formal, nicht unbedingt an die Volljährigkeit gebunden. Aber nahezu jeder würde es wohl als höchst bedenklich ansehen, ein zum Beispiel 14-jähriges Kind gegen den Willen seiner Eltern zur Teilnahme an einer klinischen Studie zu überreden.

In Deutschland wurde Forschung an nicht einwilligungsfähigen Patienten, das heißt auch an Kindern, heftig und sehr emotional diskutiert. Hier spielen immer noch die Erfahrungen aus der Zeit während des Nationalsozialismus eine Rolle. Damals wurde das Recht eines jeden Menschen, einen medizinischen Eingriff nur mit seiner Zustimmung durchzuführen, in unglaublicher Weise missachtet. Auf dieser Grundlage wird argumentiert, dass ein Eingriff in die körperliche Integrität eines Menschen ohne dessen Zustimmung nicht zu rechtfertigen sei und deshalb bei Patienten, die nicht einwilligen können, auf medizinische Forschung verzichtet werden müsse. Das würde bedeuten, dass bestimmte Patientengruppen generell vom medizinischen Fortschritt ausgeschlossen werden müssten, was ethisch sicherlich sehr bedenklich ist. Kinder sind keine kleinen Erwachsenen und speziell bei SMA gibt es medizinische Probleme, die nur in dieser Patientengruppe auftreten.

Auf der anderen Seite zeigt die Argumentation, dass speziell Kinder mit SMA I ohnehin keine gute Lebenserwartung hätten und deshalb klinische Studien hier in jedem Fall gerechtfertigt seien, dass hier ein differenziertes und sorgsames Abwägen notwendig ist. Kinder mit Typ I erscheinen auf den ersten Blick besonders geeignet für eine klinische Studie, da bei ihnen die Krankheit sehr schnell verläuft, sie zahlenmäßig die größte Gruppe darstellen und deshalb bei ihnen die Wirkung eines Medikamentes am raschesten nachzuweisen wäre. Als Wirkkriterium würde ein längeres Überleben von einigen Monaten angenommen. Allerdings erscheint gerade bei diesen so kranken Kindern der sonst als „Goldstandard“ durchgeführte Doppelblindversuch (nur die Hälfte bekommt ein Medikament, die andere Hälfte nur ein Scheinmedikament, weder Arzt noch Eltern wissen, wer was bekommt) aus ethischer Sicht sehr bedenklich. Aber auch bei einer Studie, bei der von vornherein alle Kinder das Medikament bekommen, muss man damit rechnen, dass viele Kinder eine klinische Studie vorzeitig beenden (müssen), weil sie zu krank sind, um zur Untersuchung in das Studienzentrum zu reisen oder sogar vor Abschluss der Studie versterben. Selbst die Lebenserwartung bei natürlichem Verlauf ist bei SMA I nicht so klar definiert, verschiedene Veröffentlichungen dazu geben durchaus unterschiedliche Daten an. Gerade bei dieser Patientengruppe muss eine Instrumentalisierung der Kinder unbedingt ausgeschlossen werden.

Beim Typ II und III verläuft die Krankheit nur sehr langsam progredient, so dass hier ein Stillstand nur über einen sehr langen Versuchszeitraum zu beweisen ist. Ob mit irgendeinem Medikament eine Besserung erreicht werden kann, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt zumindest nicht sicher. Man kann möglicherweise davon ausgehen, dass der periphere Nerv ein gewisses Potential zum „Aussprossen“ und damit einer Reinnervierung von Muskelfasern besitzt. Bei einem Krankheitsstillstand wäre unter dieser Voraussetzung eine gewisse Besserung, das heißt ein Kraftzuwachs, zu erzielen und ein schnellerer Wirkungsbeweis möglich.

Die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer hat im April 2004 eine Stellungnahme zur Forschung mit Minderjährigen veröffentlicht. Diese unterscheidet drei Typen von Forschung an Minderjährigen: Forschung mit Eigennutzen, Forschung mit Gruppennutzen und Forschung mit reinem Fremdnutzen. Forschung mit dem Ziel des Eigennutzens ist am wenigsten problematisch, obwohl auch hier nicht von vornherein feststeht, ob Nutzen und Belastung in einem ausgewogenen Verhältnis stehen, da es sich eben um Forschung handelt und das Ergebnis keineswegs sicher ist.

Als Voraussetzungen für eine Einbeziehung von Minderjährigen in gruppennützige Forschung werden „eine sorgfältige Ermittlung und Bewertung des möglichen Nutzens, eine sorgfältige Ermittlung und Bewertung möglicher Risiken und Belastungen und das Fehlen milderer Alternativen“ angesehen. Bei Forschung mit Aussicht auf einen Gruppennutzen könne in Einzelfällen auch ein niedriges Risiko oder eine niedrige Belastung in Kauf genommen werden. Eine klinische Studie mit Kindern mit SMA I könnte möglicherweise als Forschung mit Gruppennutzen betrachtet werden. Die Einwilligung der Eltern ist selbstverständlich unverzichtbar, der Minderjährige solle aber „seinem Verständnis gemäß so weit wie möglich in die Entscheidungsfindung einbezogen werden“. Willensäußerungen wie Irritationen, Abwehr, Angst im situativen Kontext der Durchführung eines Forschungsvorhabens „sollten als Abbruchkriterien definiert werden“. Es bleibt also im Einzelfall sehr sorgfältig abzuwägen, in welchem Verhältnis Nutzen und Risiko stehen.

Eine weitere riesige Hürde ist die Finanzierung der in der Regel sehr teuren klinischen Studien. Die Selbsthilfegruppe „Families of SMA“ gibt für die in Kürze beginnende Studie mit Valproat bei Kindern mit Typ I 1,5 Millionen US $ aus. Es ist zurzeit sehr schwer, industrielle Sponsoren für klinische Versuche bei SMA mit schon für andere Erkrankungen zugelassenen Medikamenten zu finden.

Die Firmen, die überhaupt Medikamente für SMA entwickeln oder testen wollen, entscheiden selbstverständlich intern darüber, ob ein von ihnen entwickeltes Produkt in einer klinischen Studie getestet wird. Aus der Sicht von Eltern und Kindern wäre es jedoch sehr wünschenswert, wenn für jede Substanz, die in einer klinischen Studie mit SMA getestet wird, ein Standard aufgestellt werden könnte, welche minimalen Wirksamkeitsbeweise diese Substanz vor ihrem Einsatz in der Klinik erbringen sollte. Das können Tests im Tiermodell (Überleben, Gewichtszunahme, verbesserte motorische Funktion, gesteigerte SMN-Expression) oder Effekte in Zellkulturen (gesteigerte SMN-Expression, verbessertes Überleben von Neuronen, Verbesserung der Bildung stabiler Synapsen im Reagenzglas) sein. Auch Messungen von Biomarkern im Tiermodell oder in Phase I-Studien könnten hier hilfreich sein. Ein so genannter Biomarker gibt Hinweise darauf, dass die getestete Substanz auch den gewünschten Effekt hat, gilt aber selbst nicht als direkter Beweis für eine klinische Wirksamkeit. Ein einfaches Beispiel für einen Biomarker ist der Blutdruck und seine Senkung mit einem Medikament. Ein gemessener Blutdruck ist zunächst nur eine Zahl, aber hier ist natürlich längst bewiesen, dass mit einer niedrigeren Zahl auch ein niedrigeres Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall einhergehen.

Bei SMA könnte ein Biomarker der SMN-Proteinspiegel im Blut sein. Es wäre zu beweisen, dass eine Erhöhung mit einer Besserung des Krankheitsbildes einhergeht. Es käme außerdem die Messung der Anzahl der noch vorhandenen motorischen Einheiten zum Beispiel am Kleinfingerballen in Frage. Professor Kathryn Swoboda (Utah, USA) hat hier viele Daten bei natürlichem Verlauf erhoben, auf die zum Vergleich zurückgegriffen werden könnte. Es bleibt aber festzuhalten, dass die Zulassungsbehören (EMEA, FDA) Biomarker nicht akzeptieren, solange der Beweis des Zusammenhangs mit einer klinischen Besserung nicht erbracht ist. Außerdem sollten bei allen klinischen Studien selbstverständlich standardisierte Daten über die motorischen Funktionen erhoben werden.

Zusammenfassend kann man feststellen:
– Unsere Kinder haben ein Recht auf Forschung!
– Bevor eine Substanz in eine klinische Studie geht, sollten bestimmte Wirksamkeitsbeweise erbracht worden sein. Die Zahl der Patienten und das zur Verfügung stehende Geld sind begrenzt.
– Um das Interesse der Industrie an klinischen Studien zu steigern, ist die Etablierung von Biomarkern eine unbedingte Notwendigkeit.
– Standardisierte Daten über motorische Funktionen müssen erhoben werden.
– Ein international vernetztes Patientenregister muss aufgebaut werden.
– Selbsthilfe sollte zusammenarbeiten, national wie international!

Dr. Inge Schwersenz
Initiative „Forschung und Therapie für SMA